Verhaltens­therapie goes Metaverse: Kann XR uns cooler, fitter und mutiger machen?

Hand aufs Herz: Ohne den allgegenwärtigen Selbstoptimierungswahn hier noch zusätzlich befeuern zu wollen – wir alle kennen doch bestimmte Verhaltensweisen, die wir liebend gerne loswerden würden oder die wir uns aneignen möchten. Sei es im Job oder im Privatleben, im Zusammenhang mit unserem körperlichen und/oder mentalen Wohlbefinden oder einfach im täglichen Umgang mit unseren Mitmenschen – irgendwas könnte immer besser, runder und smoother laufen. Inwiefern können uns XR Technologien dabei unterstützen, unser Verhalten nachhaltig und positiv zu verändern?

NO FEAR: MIT VR DIE ANGST BESIEGEN

Schon seit über 20 Jahren wird VR experimentell in der Psychotherapie eingesetzt. Also schon in Zeiten, als jene Technologie, die heutzutage in modernen VR Headsets ihren Job verrichtet, noch nicht einmal wirklich in den Kinderschuhen steckte (wir erinnern uns: Das erste Development Kit der Oculus Rift wurde erst 2012 von Palmer Luckey via Kickstarter finanziert und ermöglicht), hatte man in der Psychotherapie das Potential von VR erkannt und mit den ersten Versuchen in diese Richtung gestartet. Seitdem sind jede Menge Studien entstanden, die den Nutzen virtueller Erfahrungen für entsprechende Patient*innen unter Beweis stellen. Der Großteil dieser Studien beschäftigt sich mit der sogenannten Expositionstherapie. Hierbei geht es im Grunde um nichts anderes als darum, Menschen mit ihren größten Ängsten zu konfrontieren, immer wieder und in steigender Intensität – mit dem Ziel, sie letztlich davon zu heilen. Und wer schon mal in den Genuss der einen oder anderen VR-Horror Experience gekommen ist, weiß: VR und Angst passen super zusammen.

Wenn du beispielsweise unter einer ausgeprägten Arachnophobie leidest, wird es deinem Therapeuten eher schwer fallen, eine Tarantel in seine Praxis einzuladen, damit du sie aus der Nähe kennenlernen kannst. Aber mit einer entsprechenden VR App sind den Alpträumen der Spinnenphobiker keine Grenzen gesetzt. Im Grunde ist es ganz egal, wovor du Angst hast – so ziemlich alles davon lässt sich in VR mit einem hinreichenden Grad an Realismus simulieren. 

Ein sehr gutes Beispiel ist Höhenangst. In der Expositionstherapie verzeichnet man gut nachvollziehbare Erfolge, indem man die Patient*innen über virtuelle Planken balancieren lässt, die sich über ebenso virtuelle Abgründe erstrecken. Solche Erfahrungen sind übrigens dermaßen eindrucksvoll und partytauglich, dass es sie auch in so gut wie jedem App-Store für alle gängigen VR Headsets für die Allgemeinheit zu kaufen gibt. Viel Spaß damit.

XR UND UNSER SOZIALVERHALTEN

Aber auch jenseits dieser „Angst-Klischees“ gibt es Themenbereiche, die fast jede und jeden von uns betreffen, z.B. das weite Feld der sozialen Ängste. Ich kennen fast niemanden, der oder die nicht zumindest ein klitzekleines Angst-Problemchen im sozialen Umgang mit unseren Mitmenschen mit sich herumtragen würde (und die paar wenigen, die ich kenne, machen ehrlich gesagt wiederum mir ein wenig Angst). So gibt es etliche Leute, die sich richtig unwohl fühlen, wenn sie etwa vor größeren Menschenmengen sprechen müssen, oder wenn von ihnen erwartet wird, auf wildfremde Leute zuzugehen und sich vorzustellen – oder wenn sie andere Menschen mit unangenehmen Wahrheiten konfrontieren oder sich im Streitgespräch gegen sie behaupten müssen.

VR hat definitiv das Potential, das von (leichten) sozialen Phobien beeinträchtige Verhalten dieser Menschen (sprich: von uns allen) ins Positive zu kehren. Das Netz ist bspw. voll von Erfahrungsberichten ehemals extrem schüchterner, zurückgezogen lebender Menschen, die es dank der sozialen Dimension von VR geschafft haben, einen wesentlich lockereren Zugang zu anderen Menschen zu etablieren – auch im Meatspace (immer noch das coolste Wort für die schnöde, nicht-virtuelle Realität). Die „Therapie“ beginnt oft beim gemeinsamen Zocken diverser VR Games und endet nicht selten mit stundenlangen Gesprächen, die mit vormals fremden – und bald schon sehr vertrauten – Usern, bzw. deren Avataren, in virtuellen Chatrooms geführt werden.

Nun könnte man natürlich sagen, diese Art des Kennenlernens und des virtuell gelebten Miteinanders existiert im „herkömmlichen“ Internet, v.a. in den sozialen Medien von Twitter bis Tinder, ebenso, und das schon wesentlich länger. Stimmt auch. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Den Körpereinsatz.

UNSER BODY IST DER ULTIMATIVE CONTROLLER

Es ist wieder einmal Zeit für eine meiner Behauptungen, die sich durch kaum etwas belegen lassen (außer durch meine persönliche Erfahrung), aber so einem Artikel wie diesem hier erst die richtige Würze verleihen: VR und AR eignen sich deshalb so gut dazu, auf unser Verhalten einzuwirken, weil wir mit dem ganzen Körper dabei sind. Um digitalen Content auf deinem Smartphone zu bedienen, brauchst du genau einen (!) funktionierenden Daumen. Der Rest von dir kann einstweilen seelenruhig mit dem Sofa verschmelzen. Um eine vernünftige VR App zu erleben, die das Medium richtig ausnutzt – so, wie sich das gehört – musst du deinen ganzen Körper einsetzen. Und deshalb wirken diese Inhalte ganz anders auf dich, mit einer Nachhaltigkeit, die dich bzw. dein Verhalten bei regelmäßigem „Gebrauch“ tatsächlich verändert – weit über die Grenzen der virtuellen Realität hinaus.

Virtueller Content ist, abgesehen von der zwischenmenschlichen Interaktion unterhalb der User, immer in gewisser Weise simuliert, wird aber dennoch „erlebt“. Du bist regelmäßig dort, du bewegst dich darin, du schwitzt, du knüpfst Freundschaften (und manchmal auch Feindschaften – sonst wäre es ja fad), du lebst dort, nicht selten stirbst du auch dort – und schließlich überträgst du deine XR Erfahrungen, die du nicht nur mit deinem Hirn, sondern auch und vor allem mit deinem Körper gemacht und im Gedächtnis deiner Muskulatur gespeichert hast, auf dein „echtes“ Leben. Kein anderes Medium kann dir das bieten.

Es gibt einen guten Grund, warum virtuelle Fitness Apps und körperlich durchaus anstrengende Tanz- und Rhythmus-Games derzeit einen irren Boom erleben: Weil unsere Körper die ultimativen Controller darstellen, die interaktiven, digitalen Content erstmals auf eine Weise erlebbar machen, die unserer Realität sehr nahe kommt. Ein ganzer Haufen Menschen ist neuerdings in der Lage, tatsächlich (und nicht nur ein bisschen) fit zu werden, ohne sich dafür den abschätzigen Blicken der Platzhirschen im überteuerten Fitness Studio aussetzten zu müssen oder sich im Yoga-Kurs zu langweilen. Sie werden stattdessen tanzend fit, ballernd, kämpfend, fliegend, boxend, im Clinch mit Zombies, Aliens und Drachen. In AR und VR. Spielerisch, ohne Zwang und Langeweile. Alleine schon in diesem Bereich hat XR es geschafft, das Verhalten unzähliger Menschen positiv zu verändern, mit echten und bedeutsamen Auswirkungen auf deren Gesundheit und Wohlbefinden.

jrfitness

DAS DICKE ENDE: ES GINGE LEIDER AUCH ANDERS

Klar, alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, hat auch eine negative Kehrseite. Es ist bestimmt möglich, durch entsprechende XR Inhalte schlechte bzw. gesellschaftsschädigende Verhaltensweisen zu fördern. Ich habe es immer für absoluten Humbug gehalten, dass brutale Videospiele den Grund für asoziales Verhalten im Alltag oder gar reale Ausbrüche von Gewalt darstellen sollen – und das tue ich auch heute noch – aber ich befürchte, dass diese Sache im XR-Kontext doch ein wenig anders aussieht. Das Killen, Foltern oder Herabwürdigen virtueller Charaktere oder von Menschen, die durch Avatare verkörpert werden, im Rahmen einer möglichst realistischen Simulation und mit vollem Körpereinsatz, mag mitunter eine Wirkung auf labile User haben, die wir als Gesellschaft bestimmt nicht haben und schon gar nicht fördern wollen. Noch sind wir nicht so weit, zu unausgereift ist die Technologie, um eine ernsthafte Bedrohung darzustellen. Aber wir befinden uns am Weg dorthin. Nicht zuletzt erlebt auch die XR Branche einen unheimlichen Schub durch die Entwicklungen im KI Bereich. Bald wird man uns in den virtuellen Welten mit KI-gestützten NPCs konfrontieren, die in der Lage sein werden, uns nach allen Regeln der Kunst zu manipulieren, uns emotional einzuwickeln und in alle möglichen Richtungen zu lenken. Und wenn es dann mal so weit ist, werden wir die Konsequenzen davon mental und auch körperlich zu spüren bekommen.

Deshalb glaube ich, dass ein verantwortungsvoller Umgang mit solchen Inhalten von großer Wichtigkeit ist. XR Content müsste in Zukunft wohl strenger moderiert werden als es heutzutage in den „klassischen“ Online Medien geschieht. Ich kann Mark Zuckerberg in sehr vielen Dingen nicht zustimmen, aber in dieser einen Sache schon: Das Metaverse der Zukunft stellt (nicht nur) für mich den offiziellen Nachfolger der heutigen Social Networks dar – eine Art hypersoziales Medium, mit der nicht zu unterschätzenden Macht, unser Verhalten nachhaltig zu prägen. Es wird superwichtig sein, dies als Gesellschaft zu begreifen und dazu ein passendes Regelwerk zu formulieren und durchzusetzen.

Apropos KI: An dieser Stelle ist ein Shoutout an unsere Midjourney-Flüsterin Marlene angebracht, hat sie doch mit ihren ultimativen Prompting Skills dafür gesorgt, dass dieser Artikel ausgesprochen fesch daherkommt.

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Michael Lenzinger

Michael Lenzinger

Schreibt allerhand. Creative Director / Partner bei Junge Römer. Clowngitarrist bei You Should See the Other Guy
Michael Lenzinger

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